Das Ratsgymnasium in Rotenburg (Wümme) war nach dem Staatsexamen und der Referendarzeit meine erste Lehrerstelle für drei Jahre von 1967 bis 1970.

 

Im Sommer 1969 war ich Klassenlehrer der 13 fl. In einer Bierzeitung” haben sich die Schülerinnen und Schüler selbst charakterisiert:

 

Marina Bohlmann: Auf Anraten meines Gemeinschaftskundelehrers bin ich im Begriff, mir einen intellektuellen Freund anzuschaffen.

Günter Gräfenhain: Tosca-Edith - Werd ich zum Augenblicke sagen, verweile doch, du bist so schön ...

Renate Holste: Für die permanente Revolution ist in der Klasse kein Platz.

Heiner Holsten: Ich bin jederzeit bereit vorzuführen, daß ich antigrav bin. (Nachzulesen bei Kleist Über das Marionettentheater”)

Sabine Klencke: Ich bin schlimmer als mein Ruf ...

Ursula Krüger: Pastors Kinder, Müllers Vieh, geraten selten oder nie.

Dieter Marreck: Geistesgegenwart erfordert nicht immer Geist.

Joachim (Jockel) Meier: Wenn ich vor 1892 zur Schule gegangen wäre, hätte ich meine Aufsätze noch in lateinischer Sprache schreiben müssen.

Bärbel Otto: Im Durchblick durch die verrinnende Zeit erfahre ich (in meinen Schulstunden) die sammelnde Ewigkeit.

Uta Pommerening: Dummerweise gibt es nichts, was ich überhaupt nicht kann.

Renate Riechling: Selbst wenn der Mund sich schließt, bleibt die Frage offen.

Gaby Rust: Die äußeren Attribute der Damenhaftigkeit hindern nicht an produktiven Unterrichtsbeiträgen.

 

Natürlich kam in der Bierzeitung” auch meine Person vor:

 

 

 

 

VIEL HABEN WIR GELERNT IM DEUTSCHUNTERRICHT

 

Goethes große Gedanken sind uns durch die Bemühungen der Interpreten näher gerückt; wer von uns könnte jetzt reine Liebe mit platter Sinnenlust verwechseln?

Und wer verstünde Kafka und Kleist richtig ohne Benno von Wiese?

Schülereigene Interpretationen sind nur solange zugelassen, wie sie dazu dienen, Irrtümer unsererseits aufzuklären.

Feierlich wie nach einer Liturgie geht der Unterricht vonstatten, und kein unheiliges Wort unterbricht die Stille, wenn den Schülern wieder einmal ihre Unwissenheit vor Augen gestellt wird.

Sicher, wie das Amen in der Kirche, erscheint am Ende der Stunde die schriftliche Hausaufgabe. Peinlich, wenn der bewußte Zettel nicht zu finden ist.

Der Normalschüler, dem die Deutschstunde entweder zu hoch oder zu dumm ist, kann sich trösten; soviel Arbeit wie der Herr am Katheder braucht er sich nicht zu machen.

ZITAT

Lehrer: Was ist das nun für eine Szene, die zwischen Faust und Gretchen?

Schülerin: Na, das ist so eine - hm ...

Lehrer: Ja?

Schülerin: Eine Liebesszene.

Lehrer: Ja natürlich!!! Eine Liebesszene! Und was war es, das Faust am Anfang zu Gretchen trieb?

Schüler: (Schweigen)

Lehrer: (nach einigen aufmunternden Blicken in die Runde) Später erst ist es die reine Liebe, die ihn zu Gretchen zieht. Am Anfang aber war es doch nur platte Sinnenlust. 

  


 

kreiszeitung.de am 16.06.2019

Rotenburger Ratsgymnasium feiert 70. Schuljubiläum

 

In der Aula gibt es am Vormittag einen Festakt. Schulleiterin Iris Rehder, Landrat Hermann Luttmann (CDU), Rotenburgs Bürgermeister Andreas Weber (SPD), der CDU-Landtagsabgeordnete Eike Holsten und Eckard Völker als ehemaliger Lehrer schlagen den Bogen von den Anfängen des Gymnasiums bis heute.

Schule ohne Rassismus, Offenheit für Neues oder auch vielfältige Verbindungen in andere europäische Länder – für alles das und vieles mehr steht das Ratsgymnasium heute. Dies machen Rehder und die anderen Festredner mehrfach deutlich. Dabei sei es irgendwie immer recht lebenspraktisch zugegangen, erinnert sich Völker als ehemaliger Lehrer. Selbst die revolutionären Zeiten 1968/1969 waren in Rotenburg nur ein kurzes Aufflackern. „Im nächsten Jahr war alles wieder beim Alten“, erinnert er sich schmunzelnd.

 

(Mein Eindruck war ein anderer.)

 


 

Grundsätzliche Überlegung zu der Frage, ob man nach 50 Jahren als Lehrer an einem Klassentreffen mit ehemaligen Schülern teilnehmen sollte:

 

Vielen Dank für die Einladung. Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich kommen soll oder nicht.

Als ich nach meinem Abitur mit dem Studium anfing, hatte ich die besten Vorsätze. Ich wollte ein Lehrer werden wie Robin Williams in dem Spielfilm „Der Club der toten Dichter“. Leider ist daraus nichts geworden. Es war ein Weg mit zunehmenden Enttäuschungen bis zum vorzeitigen Berufsende. Die negativen Erfahrungen haben mich bisher davon abgehalten, an irgendeinem Klassentreffen teilzunehmen.

Das gilt schon für meinen eigenen Abiturienten-Jahrgang, dem es nach 50 Jahren zum ersten Mal einfiel, ein Wiedersehen zu organisieren. Ich habe darin keinen Sinn gesehen und bin nicht hingegangen.

Nach meiner Pensionierung als Lehrer habe ich meine Schule, an der ich 30 Jahre gearbeitet hatte, nie wieder betreten und mich auch nicht dem Club der Pensionäre angeschlossen.

Wie soll ich mich nun bei der Klasse in R. verhalten, die nach 50 Jahren zufällig entdeckt, dass ihr Deutschlehrer noch unter den Lebenden weilt?

Ich war nur 3 Jahre in R. und habe dort keine Wurzeln geschlagen. Ich kann mich an keinen Schüler und keine Schülerin erinnern. Es hat auch nie eine gemeinschaftliche Begegnung (Geburtstagsfeier, Party, Sportfest, Wanderung usw.) außerhalb des reinen Schulbetriebes gegeben, auch nach der Schulzeit kein Klassentreffen. Ehemalige Kollegen würde ich auch nicht treffen. Die sind vermutlich alle tot.

Warum jetzt also ein Klassentreffen nach 50 Jahren? Warum sollte ich also nach R. kommen?

An das Gymnasium in R. habe ich auch keine so guten Erinnerungen, weil ich nach meinem Weggang noch lange Zeit mit Klagen und Einsprüchen zu tun hatte. Einige Eltern waren mit meiner Notengebung und der anderer Kollegen nicht einverstanden, wollten die nachträgliche Versetzung erzwingen und haben prozessiert. Wohl Auswirkungen der 68er Revolution, durch die vieles infrage gestellt wurde. Das war der damalige Zeitgeist, dem wohl auch die Klasse anhing, denn in der „Abizeitung“ steht geschrieben:
„Irgendetwas muß schon faul sein an dieser Institution. Etwas, das sich nicht mehr zu kritisieren lohnt.“

Ein letzter Hinweis:

Am 10.03.2019 lief in der ARD der Spielfilm über ein „Klassentreffen“ nach 25 Jahren. Mein Eindruck: peinlich, grauenvoll, enttäuschend, schlimm, reines Chaos, belangloses Gerede. Wie soll es erst bei einem Klassentreffen nach 50 Jahren zugehen?

 

Ich nehme also an der Feier nicht teil, wünsche aber allen, dass sie das Ereignis unbeschadet überstehen, wenn sie denn teilnehmen.